Ein "mehr" für alle Fälle < Grammatik < Deutsch < Sprachen < Vorhilfe
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Hallo miteinander,
ich versuche einen nichtmuttersprachlichen Germanisten davon zu überzeugen, dass er unrecht hat. Er ist der Meinung, dass z.B. der Ausdruck "Die Deutschen trinken wieder mehr französischen Wein" korrekt ist, aber normalerweise nach "mehr" der Genitiv steht, wenn man damit "mehr von etwas" meint, also z.B. "mehr des Weines".
Ich sehe das anders, dazu siehe die folgenden Beispiele. Meiner Ansicht nach richtet der Ausdruck nach "mehr" im selben Fall steht, als wenn das Wort mehr gar nicht vorhanden wäre. "Mehr des Weines" klingt wie wörtlich aus einer Fremdsprache übersetzt.
Für das Wort "viel" gibt es eine Regel, die genau das sagt, was ich auch sage aber für das Wort "mehr" kenne ich keine. Ich wäre deshalb dankbar für eine Quellenangabe die meine Meinung auf wissenschaftlichen Boden stellt.
Ansonsten bitte ich euch einfach darum, dass ihr kontrolliert, ob die Ausdrücke stimmen.
1.) Ich will mehr Geld.
2.) Sandra verdreht mehr jungen Männern den Kopf als Sonja.
(Es heißt "jemandem den Kopf verdrehen", also Dativ. Deshalb "jungen Männern" im Dativ, so wie wenn "mehr" gar nicht da stünde.)
3.) Esst mehr frischen Fisch!
(essen + Akkusativ, also wie "Esst frischen Fisch!")
4.) Wir haben mit mehr Zuschauern gerechnet. (mit + Dativ)
Am Ende noch ein Beispiel, bei dem tatsächlich Genitiv steht -- weil bedürfen ein Genitivobjekt hat.
5.) Es bedarf mehr gesunden Menschenverstandes um dieses Problem zu lösen.
Ich bitte um Kritik und auch Gegenbeispiele, falls ich im Unrecht bin. Am besten wäre freilich eine Regel aus einem Lehrbuch.
Liebe Grüße
Hugo SV
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Status: |
(Antwort) fertig | Datum: | 04:57 Do 17.12.2009 | Autor: | Josef |
Hallo Hugo,
hier eine Zusammenstellung über den Gebrauch von "mehr".
Z.B.:
Pron. mehr
(Komp. von "viel")
I. (↔ weniger) verwendet, um auszudrücken, dass etwas in größerer Menge oder Anzahl als etwas anderes da ist oder der Fall ist Wir brauchen mehr Geld/mehr Freizeit., Wir mussten mehr Schulden machen als geplant., Auf ein paar Euro mehr oder weniger kommt es nicht an., Man sollte nicht mehr versprechen, als man halten kann., Wir haben mehr als genug Zeit., Was könnte einen noch mehr ärgern?, Was willst du mehr?
Viele Grüße
Josef
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Hallo Josef,
vielen Dank für deine Antwort so mitten in der Nacht. Leider beantwortet sie nicht die gestellte Frage.
Hugo
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Hallo Hugo (HSV),
Du hast m.E. in allen Fällen Recht und die Beispiele gut ausgewählt. Die Genitiv-Regel galt noch für die Dichtung der deutschen Klassik, betraf da aber alle Begriffe, die Mengenangaben oder Größenordnungen betrafen: genug des Weins (aber auch damals schon: genug Wein, nicht "genug Weins"!), zuviel der Mühen (aber auch damals schon: zuviel Mühe) etc.
Dein nicht muttersprachlicher Germanist sitzt darum vielleicht nur einer klassischen Grammatik auf. Das wäre nichts Neues. Ein wunderschönes Buch für alle des Englischen und Niederländischen Kundigen ist das kurz nach 1900 veröffentlichte "An Irishman's Difficulties with the Dutch Language" von Cuey-na-Gael, ein Pseudonym eines Kollegen - Rev. J. Irwin Brown. Auch in diesem Buch geht es um jemanden, der mit einer veralteten Grammatik eine Sprache zu erlernen versucht, hier das Niederländische. Er versucht sich an alten Personalpronomina und erntet Verwunderung. Das führt er darauf zurück, dass er deren Verwendung noch nicht beherrscht und versucht darum andere Formen, die ihm so einfallen, aber das macht es nur noch schlimmer.
In der heutigen Sprache ist der Genitiv nach "mehr" (etc.) nur noch dann üblich, wenn es sich um eine ältere stehende Wendung handelt oder aber auch ohne das "mehr" der Genitiv Rektion z.B. des Verbs wäre, wie Du richtig analysiert hast.
Leider habe ich keine aktuelle wissenschaftliche Grammatik des Deutschen - in anderen Sprachen könnte ich Dir da eher weiterhelfen. So muss ich mich darauf beschränken, als durchaus grammatisch Gebildeter einen Blick auf meine Muttersprache geworfen zu haben, offenbar wie Du auch.
Ergebnis: ich bin ganz auf Deiner Seite.
Herzliche Grüße
reverend
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Hallo reverend,
vielen Dank für deine hilfreiche Antwort. Kannst du mir vielleicht angeben, woher du diese Spezialität der Klassik kennst?
Der aktuellen Grammatiken stehen mir leider nur solche zur Verfügung, die diesen Spezialfall nicht explizit behandeln. Andererseits geben sie Regeln wie z.B. "ein Glas stilles Wasser" (und nicht stillen Wassers) und "viel frisches Obst" (und nicht frischen Obstes) an. (Diese Beispiele sind nebenbei bemerkt denkbar schlecht, weil die Formen von Nominativ und Akkusativ natürlich gleich sind, aber wenigstens kann man den Genitiv ausschließen.)
Meine Formen beruhen auf den Annahmen
* mehr = Komparativ von viel,
* das Verhalten beider Wörter ist gleich,
aber man kann ja nie wissen...
Hugo
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Hallo Hugo,
> Kannst du mir
> vielleicht angeben, woher du diese Spezialität der Klassik
> kennst?
Lesen, viel lesen...
Nein, allen Ernstes, ich habe ein paar tote Sprachen studiert. Viele der noch gebräuchlichen wissenschaftlichen Grammatiken sind älteren Datums, so dass man nicht nur Einblick in die zu erlernende tote Sprache bekommt, sondern auch in eine ältere Form der verwendeten lebendigen Sprache, so auch des Deutschen.
Möglicherweise ist dieser Artikel ganz interessant, schon die ersten Zeilen incl. des Kleingedruckten auf der weniger als halben kostenlos einsehbaren Seite lesen sich ja ganz anregend.
Ansonsten dürfte es in jeder guten Unibibliothek irgendwo Jakob Grimm, Deutsche Grammatik, 4 Bde. (1819-1837) geben, auch als Nachdruck. Und Wikipedia hat hier eine kleine Übersicht historischer und aktueller Grammatiken.
Eine Liste von nur 5 Online-Grammatiken findest Du hier; besonders die erste kann ich empfehlen.
Der Eintrag zu "mehr" in Grimms Deutschem Wörterbuch ist umfänglich und hier online einzusehen. In Abschnitt 8 findet sich z.B. auch ein Hinweis auf den genetivus partitivus. Der heutige Gebrauch des Worts wäre sicher nicht mehr so umfänglich darzustellen. Ich sehe da Schwerpunkte in den Grimmschen Abschnitten 9 und 12.
> Meine Formen beruhen auf den Annahmen
> * mehr = Komparativ von viel,
> * das Verhalten beider Wörter ist gleich,
> aber man kann ja nie wissen...
Auch dazu haben die GEbrüder Grimm ja mehr als genug geschrieben, überhaupt eine ihrer wesentlichsten Eigenarten.
> Hugo
Herzliche Grüße
reverend
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Hallo reverend,
danke für deine Antworten. Ich hoffe, dass ich von so vieler Grammatik kein Bauchgrimmen bekomme.
Frohes Fest und eine stille Nacht
Hugo
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Hallo,
ich finde, dass es die Überlegung wert ist, was hier grammatisch passiert, was vielleicht den Linguisten oder den letztendlich doch Grammatikfan interessiert.
In allen Fällen findet hier so eine Art Verweschlung statt, wo eine adverbiale Verwendung und das Setzen von Objekten in obliquen Kasus in Bezug auf das Verb oder im anderen Fall auf das Adverb. Man kann das gut dadurch sehen, dass man überall, wo man vielleicht klassisch einen Genitiv setzen darf auch mit einem "mehr an" auskommt, wobei stets eine quantitative Dimension zum Ausdruck kommt. Diese grammatisch Form scheint hauptsächlich aus dem Erbe der klassischen Sprache zu stammen. Im Latein gibt es eine entsprechende Form des "Genitivus qualitatis" für so Ausdrücke wie "classis septuaginta navium" - Flotte von 70 Schiffen. Und genauso gibt es da irgendwelche Adjektive, die mit Genitivus ergänzt werden müssen.
Dein Beispiel
Wir haben mit mehr (an) Zuschauern gerechnet.
bedient sich wegen der Wendung "mit etwas Rechnen" des Dativs. Sobald man die Ergänzung von "an" einsetzt, steht der Dativ als Ergänzung des Adverbs "mehr". Eine dritte Version ist denkbar, schwer für die Zunge:
Wir haben mit mehr der Zuschauer gerechnet.
Das ist das Äquivalent zur "mehr an"-Version.
Diese Kasusabhängigkeit zeit sich deutlich, wenn man eindeutige Objekte einsetzt, die also Kasusänderunngen formal sichtbar werden lassen, und nicht im Fall von frischem Fisch:
Esst mehr frische Fische. Esst mehr an frischen Fischen. Esst mehr frischen Fischs.
Und, wie man mit muttersprachlichem Hintergrund merkt, nimmt die Gebräuchlichkeit dieser Ausdrücke in der Reihe von links nach rechts stark ab. Es gibt für solche Prozesse in der Sprache, warum hier die Genitivversion verdrängt wird, Untersuchungen und auch einen Namen, was ich aber beides nicht explizit kenne. Vielleicht kann man in dieser Richtung Quellen suchen, wenn der Blick auf diese grammatischen Versionen und der Übergang dieser präpositionalen Objekte nicht reicht.
Naja, soll der "Ausländer" uns mal die Sprache lassen, man sagt ja auch nichts über seine, sonst hätte ich die Sprachen, die ich ansatzweise lernen sollte, auch total verändert. Leider ist das eine fundierte Diskussion ziwschen, wo es der Quellen bedarf...
Vielleichts bringt's dich noch weiter als mit reverend Hilfe.
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Hallo totes-Integral,
danke für deine Antwort. An den genitivus qualitatis habe ich natürlich auch gleich gedacht. Meiner Meinung nach gibt es den im Deutschen nicht (mehr). Ein Kalauer als Beispiel: Ein "Haus der Freuden" heißt "Freudenhaus" und "Ausfall der Haare/des Haares" bzw. "Ausfall an Haaren" "Haarausfall" . Oder man verwendet man Verbindungen wie z.B. "reich an ...". "Lasst uns mehr des Weines trinken!" klingt für mich wie eine Wort-für-Wort Lateinübersetzung, aus der man mit etwas Geschick einen vernünftigen Satz formt.
An deine absteigende Gebräuchlichkeitsliste würde ich ans linke Ende, d.h. als verbreitetste Form, den Satz
"Esst mehr frischen Fisch!" stellen, aber hier geht ja auch Singular und Plural dann durcheinander.
Was die Ausländer angeht, so überlasse ich ihnen gerne unsere Sprache, weil wir selbst ja manchmal auch nicht wissen, wie das alles so funktioniert. Ich selbst habe einmal gesagt:
"Er wird das Licht schon ausgeschaltet haben."
im Sinne von
"Ich denke, dass er das Licht mit ziemlicher Sicherheit ausgeschaltet hat."
aber bis heute ist mir ein Rätsel was für eine seltsame Form das sein soll. Das normale Futur II? Es ist wohl besser, wenn regelmäßig Leute von außen die deutsche Sprache kontrollieren, damit wir uns selbst auch weiterhin miteinander verständigen können.
Liebe Grüße
Hugo
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